Cover
Titel
Cartographies of Tsardom. The Land and Its Meanings in Seventeenth-Century Russia


Autor(en)
Kivelson, Valerie A.
Erschienen
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 59,90 / € 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Winkler, Institut für Geschichtswissenschaften, Lehrstuhl Geschichte Osteuropas, Humboldt-Universität zu Berlin

Innovative Fragestellungen und originelle Methoden haben in den letzten beiden Jahrzehnten das Moskauer Reich zu der wahrscheinlich interessantesten Epoche in der historischen Russlandforschung gemacht. Eine der originellsten Denkerinnen ist hier zweifellos Valerie Kivelson, die die Forschung in einer Vielzahl von Aufsätzen zu verschiedenen Themen des 17. Jahrhunderts vorangetrieben hat.
Kürzlich nun ist Kivelsons neues Buch erschienen, das die – hoch gesteckten – Erwartungen erfüllt und in mancher Hinsicht noch übertrifft. In einer ambitionierten Einleitung und acht einzelnen Kapiteln fragt die Autorin nach der Bedeutung von Raumvorstellungen für die Moskauer Gesellschaft und Herrschaft. Dabei gelingt es ihr, durch faszinierende Interpretationen von Kartenmaterial und Textquellen neue Fragen und Antworten zu grundlegenden Problemen der russischen Geschichte zu finden.

Das Buch steht eindeutig im Rahmen der Kulturgeschichte – es bleibt jedoch nicht, wie so viele andere Werke, bei den von Foucault und Bourdieu übernommenen Axiomen stecken, sondern geht weit darüber hinaus. So beispielsweise, wenn die Autorin die Verknüpfung von Kartografie und Macht diskutiert und die so gern beschriebene Koppelung von zentraler politischer Macht und der Herstellung von Karten hinterfragt. Sie kann überzeugend nachweisen, dass lokale Interessen, insbesondere persönliche und familiäre Rivalitäten in Besitzstreitigkeiten, eine deutlich größere Rolle spielten als der unterstellte Konflikt zwischen Zentrum und Provinz. Einmal mehr werden hier gleichermaßen die Vorstellung von der Moskauer Autokratie wie die These von der mangelnden Durchherrschung in Frage gestellt. Lokale Interessen standen nicht unbedingt in unversöhnlichem Kontrast zur zentralen Macht; vielmehr funktionierte das Moskauer Reich gerade über eine gewisse Politik des laissez-faire.

In einem weiteren Kapitel setzt sich Kivelson mit Fragen des Landbesitzes und der Leibeigenschaft auseinander. Wenn sie hier von kulturwissenschaftlichen Allgemeinplätzen wie „Enclosed and humanized space is place“ ausgeht, so bleibt sie keineswegs bei solchem modischen Jargon stehen, sondern entwickelt auf dieser Basis eine Diskussion des Umganges mit Land und Landbesitz im Moskauer Reich. Zu den zentralen Praktiken zählten das Festlegen von Grenzen und Eigentum und damit die Zuordnung zu einzelnen Personen oder Kollektiven und das Bemühen, das „leere Land“ mit Menschen, Arbeitskraft, Sinn zu füllen. In diesem Prozess spielten Leibeigene eine wichtige Rolle. Wie gar nicht oft genug betont werden kann, war die Leibeigenschaft dieser Zeit in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung kaum mit der Sklaverei (zumindest in der häufig als klassisch empfundenen Form des amerikanischen Südens) zu vergleichen. Vielmehr, und dies ist ein weiterer entscheidender Punkt in Kivelsons Argumentation, fungierten leibeigene Bauern als eine Art Zwischeninstanz zwischen Land und Adel – erst ihre Arbeit und ihre Siedlungen begründeten Landbesitz, und erst über die durch sie bezahlten Steuern war in vielen Fällen Landbesitz juristisch nachweisbar. Gemeinsam mit der Feststellung eines vitalen Interesses der Bauern an dem von ihnen bearbeiteten Land führen diese Überlegungen zu einer wichtigen neuen Perspektive der frühneuzeitlichen Eigentumsgeschichte in Russland: Kivelson spricht von einem Besitzmodell in Schichten, an dem sowohl die Bauern als auch der Adel und der Zar teilhatten. Die traditionelle, leider kaum zu vertreibende Vorstellung vom Zaren, der alles Land in einer Art von „Privateigentum“ besaß, wird hier auf überzeugende Weise in Frage gestellt.

Im Kapitel „The Souls of the Righteous in a Bright Place“ wird das in Karten und anderen Quellen hervortretende Raumverständnis in den Rahmen der orthodoxen Kultur gestellt. In einer interessanten Gegenüberstellung mit Ikonen beschreibt Kivelson Landkarten – die häufig genug für sehr „profane“ Zwecke wie Eigentumsprozesse hergestellt und genutzt wurden – als Ausdruck von Paradiesvorstellungen. Das russische Land erscheint als von Gott gesegnet, die Landschaft nicht als feindliche, wüste Umgebung, sondern als Garten Eden, der durch menschliche Arbeit zum wahren Paradies werden kann. Da es sich bei den Kartografen zumeist nicht um Mitglieder der Elite Moskaus handelte, geben die Karten darüber hinaus die seltene Möglichkeit, etwas über die Frömmigkeit wenn nicht der untersten sozialen Schichten, so doch der lokalen niederen Bürokratie zu erfahren. Kivelson kann aus ihren Quellen den zumindest vorläufigen Schluss ziehen, dass die Kosmologie der Eliten und das fromme Weltbild der niederen Schichten sich auf erstaunliche Weise ähnelten.

Auf diese drei in ihren Fragestellungen doch recht unterschiedlichen und in sich abgeschlossenen Kapitel folgen vier weitere Kapitel, die stärker ineinander übergehen und Fragen nach der russischen Expansion in Sibirien stellen. Mancher Leser mag hier eine mangelnde Symmetrie im Aufbau des Buches erkennen wollen, die jedoch dem Erkenntniswert in keiner Weise abträglich ist. Letztlich wird auch deutlich, wie viele der in den ersten Kapiteln angesprochenen und entwickelten Themen im zweiten aufgegriffen werden. Dazu gehört die These vom Bild des Garten Eden, aber auch die Bedeutung der menschlichen Arbeit und Siedlung. Sibirien wird in vielen Karten und Beschreibungen als von Gott erwähltes Land beschrieben und nicht nur in einen russischen Rahmen, sondern in eine globale Kosmologie eingepasst. Darauf aufbauend, greift Kivelson die Kontroverse um die Bedeutung der orthodoxen Mission für die russische Expansion nach Osten auf. Sie lehnt die bisher bisherige konträre Argumentation (die orthodoxe Mission war ein Hauptmotiv für die Expansion – die Mission war nur nebensächlich) ab und schlägt stattdessen die Formulierung der „Christianization without conversion“ (S. 150) vor: Nicht unbedingt die Menschen wurden christianisiert, sondern das Land. Russische Besiedlung und die Kartierung in einer an Ikonen orientierten Bildsprache machten das Land zu einem Teil des orthodoxen Russland.

Gleichzeitig war es nicht das Ziel russischer Expansion, ein gleichförmiges Reich zu schaffen. Unterschiede in kultureller, sprachlicher und landschaftlicher Hinsicht wurden vielmehr nicht nur akzeptiert, sondern zelebriert, sie galten als ein Zeichen der unermesslichen Macht des Zaren. Dass dies keine durchgehend friedliche oder, wie die Quellen immer wieder betonen, „freundliche“ Eroberung bedeutete, versteht sich eigentlich von selbst – Kivelson hebt diesen Unterschied dennoch berechtigterweise hervor. Doch die Unterwerfung unter russische Macht ging nicht einher mit einer kulturellen Uniformierung, wie sie von vielen westlichen Imperien bekannt ist und gern auch für Russland unbesehen vorausgesetzt wird.
Im Kontext der Frage nach Landbesitz kommt hier die in den letzten Jahren so populäre und bewährte These von der konsensorientierten Politik des Moskauer Reiches ins Spiel. Die auf die Konzepte der Macht und Disziplin eingeübte Forschung konzentriert sich gern auf die Unterdrückung lokaler Besitztraditionen zugunsten von zentralen, vorzugsweise modernen Eigentumskonzepten. Während dies teilweise auch bezüglich des 19. Jahrhunderts in Frage gestellt werden kann, zeigt Kivelson für das 17. Jahrhundert überzeugend, wie auch Landbesitzfragen über einen Konsens geregelt wurden, der Bevölkerung und Zar gleichermaßen verband. Was für das Schichtenmodell des Landbesitzes in Zentralrussland galt, traf auch für die neu besiedelten Gebiete in Sibirien zu. Dass dieses Modell die tatsächlichen Konflikte zwischen beispielsweise nomadischer und siedelnder Bevölkerung nur sehr bedingt einbezog, liegt in der Natur der Sache und kann einem Ansatz, der in erster Linie politische Vorstellungen und kulturelle Zuordnungen erklären will, nicht wirklich vorgeworfen werden.

Insgesamt ist dies ein Buch, das in seinen einzelnen Kapiteln oder seiner Gesamtheit hoffentlich viele Leser finden wird. Valerie Kivelson gelingt es durchgehend, an die zentralen Fragen der russischen Geschichte anzuknüpfen und originelle neue Perspektiven vorzuschlagen. Kulturgeschichte ist hier kein fertiges Feld, in dem man sich mit schön klingenden Phrasen im Kreis drehen kann, sondern ein Sprungbrett, das neue Energie gibt und sie gleichzeitig fordert. Kivelsons Prosa ist auch deshalb so fesselnd, weil sie nicht einfach nur beschreibt – sie argumentiert. Allzu häufig finden sich die Thesen eines Buches in der Einleitung und in der Zusammenfassung, während der Hauptteil sich in Details verliert. Nicht so in diesem Werk, in dem die Quelle und das Fallbeispiel Mittel der Argumentation und keineswegs Selbstzweck sind. Auf diese Weise wird das Buch durchgehend auch für Historiker anderer Spezialisierungen interessant und schafft es so hoffentlich, die neuen, faszinierenden Ergebnisse der Forschung zum Moskauer Reich bekannter zu machen und endlich mit den vielen weit verbreiteten Vorurteilen über die so genannte „vorpetrinische“ Zeit aufzuräumen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension